In einer kaum überschaubaren Menge von Büchern und Zeitschriftenartikeln, Testverfahren und Trainingsprogrammen werden die visuelle Wahrnehmung und die sogenannte Figur-Grund-Unterscheidung (FGU) behandelt. Doch was passiert eigentlich bei dieser Unterscheidung? Was sagt es aus, wenn etwa im Rahmen einer umfassenden Entwicklungsdiagnostik in der Frühförderung oder mit Blick auf umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten Auffälligkeiten in der Figur-Grund-Unterscheidung festgestellt werden?
Den Ausgangspunkt unserer Betrachtung stellt das Abbild (proximaler Reiz) eines sichtbaren Objekts (distaler Reiz) auf der Netzhaut (Retina) unseres Auges dar. Der Sehnerv bündelt die gesammelten Informationen und erzeugt ein Feuerwerk an elektrischen Entladungen in der Sehrinde des Gehirns, das unsere Vorstellung von einer äußeren Realität entstehen lässt. Wir sehen also nicht, als würde Licht durch unsere Augen wie durch ein Fenster in unseren Kopf fallen. Vielmehr erleben wir eine Vorstellung von der Welt und den Dingen, die sie beherbergt, und diese Vorstellung erweist sich als abhängig von all dem, was wir in unserem Leben bereits zuvor gesehen und gelernt haben.
Wenn wir etwas sehen, gleichen wir die visuellen Reize blitzschnell mit unserem unerschöplichen Reichtum an inneren Bildern ab und können die Welt „da draußen“ so in unsere bereits gemachten Erfahrungen einordnen. Visuelle Wahrnehmung steht also in einem engen Bezug zu unserem Gedächtnis. Das Erkennen erweist sich somit in der Regel als ein hoch automatisiertes Wieder-Erkennen. Einen solchen konzeptgesteuerten Verarbeitungsprozess nennt man Top-down-Prozess. Den Gegensatz stellt der Bottom-up-Prozess dar. Hier findet eine reizgesteuerte visuelle Analyse der einzelnen Informationen statt, die erst noch in einen sinnvollen Zusammenhang zueinander gebracht werden müssen.
An dieser Stelle erweist es sich als sinnvoll, endlich den Begriff der (FGU) eingehender zu beleuchten. Ein visueller Reiz kann nur dann gesehen werden, wenn er als von einem anderen visuellen Reiz verschieden wahrgenommen werden kann. So können Sie einen Stern etwa nur dann am Himmel sehen, wenn es Nacht ist. Tagsüber strahlt der Stern ebenfalls, nur scheint eben auch die Sonne. Genau so können wir in einem Wirrwarr von Linien nur dann ein Quadrat erkennen, wenn wir a) wissen, wie ein Quadrat aussieht, und b) die übrigen Linien kein Quadrat bilden. Nur dann können wir die Figur (als sinnvolle, in sich abgeschlossene Einheit visueller Informationen) von einem Hintergrund unterscheiden – einem Reizmuster, das abweichende visuelle Informationen beinhaltet.
Vor der Unterscheidung in Figur und Hintergrund steht die visuelle Analyse (Bottom-up). Unterschiedliche Punkte und Linien, die Flächen- und Farbinformationen, die wir sehen, werden miteinander in Beziehung gesetzt, bis wir eine Regelhaftigkeit ausmachen, anhand derer wir einzelne Stimuli zu einer bedeutungsvollen Gestalt zusammenfassen können (vgl. Abb. 1 und 2). Diese Integration impliziert eine Segmentation von den übrigen Reizen. Es entsteht eine Struktur.
Abbildung 1 und 2. Visuelle Reize werden vor einem Hintergrund zu einer in sich abgeschlossenen Bedeutungseinheit zusammengeführt (Abb.1; Bottom-up) – wir erkennen das Sternbild Großer Wagen (Abb. 2).
Vielleicht können wir das Gesehene aber auch sofort in bestehende Konzepte (Top-down) integrieren und erkennen Objekte, ohne dass wir überhaupt darüber nachdenken müssen. Unsere Wahrnehmung erweist sich als so automatisiert, dass wir Dinge selbst dort erkennen, wo sie nach objektivem Maßstab nicht vorhanden sind. Ein solcher Gestaltschluss ergibt sich etwa in Abbildung 3, wenn der Leser drei weiße Ringe wahrnimmt, wo doch tatsächlich lediglich einige Rechtecke (tasächlich?) mit weißen Linien darin zu sehen sind.
Abbildung 3. Gestaltschluss; wir erkennen drei weiße Ringe vor acht blauen Rechtecken. Dabei ist tatsächlich weder ein vollständiger Ring noch ein vollständiges Rechteck zu sehen.
Doch die visuelle Analyse geht noch tiefer. Um eine Regelhaftigkeit unter einer Vielzahl visueller Stimuli zu entdecken, ist es notwendig, das Sichtbare gleichsam objektiv visuell zu vermessen. Nur wenn ein Mensch etwa in der Lage ist, einen rechten Winkel von einem Winkel anderer Größe zu unterscheiden, zu erkennen, wenn zwei Linien etwa unterschiedlich lang sind, nur dann kann er auch ein Quadrat von einem Rechteck, von einem Trapez oder auch von einem Parallelogramm unterscheiden. Diese räumlich-perzeptive Leistung – die exakte Bestimmung von Abständen, Winkeln und Positionen – stellt entsprechend den Anfang und die Voraussetzung für eine problemlose FGU dar.
Die Interpretation der Reize, die unterschiedliche kognitive Bewertung etwa einer einzelnen Linie je nach aktiver integrativer Vorstellung, führt dann zur Wahrnehmung einer Figur, die als Gestalt („Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile“) vom Hintergrund unterschieden werden kann.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Figur-Grund-Unterscheidung einen recht komplexen Vorgang in der visuellen Informationsverarbeitung darstellt. Hierzu gehören mindestens a) das räumlich-perzeptive Erfassen von Abständen, Winkeln und Positionen (visuelle Analyse), b) die gedankliche Interpretation visueller Stimuli in Bezug zu unterschiedlichen, visuell basierten Vorstellungen (räumlich-kognitive Imagination) sowie c) die Integration in ein dominierendes kognitives Konzept (gedächtnisbezogenes Erkennen) und damit einhergehend d) das Erleben der Figur als verschieden von dem sie umgebenden Hintergrund (Figur-Grund-Unterscheidung). Hinzu kommt das Erfassen von Farbverläufen und Oberflächenbeschaffenheiten, die sich nach ihrer räumlichen Ausdehnung und Anordnung wiederum nach räumlich-perzeptiven Gesichtspunkten strukturieren lassen.